Als Kind war ich schnell über meine Kinderbücher hinausgewachsen und durfte Bücher aus der Sammlung meiner Mutter lesen. Als erstes haben meine Finger natürlich „den kleinen Prinzen“ aus dem Regal gezogen. Ein „Märchen für Erwachsene“ klang so faszinierend für mich, dass ich unbedingt wissen wollte, worauf die Erwachsenen so „abfahren“. Ich mochte dieses Buch. Es hat meine Gefühlswelt etwas überfordert, aber ich mochte dieses Buch.
„Der kleine Prinz“ hat mir das Bücherregal meiner Mutter nicht abspenstig gemacht. Welche Bücher danach dran waren, weiß ich nicht mehr. Doch weiß ich, dass ich die Bücher von Jack London sehr gemocht hatte.
Wir lebten damals in der Sowjetrepublik Kasachstan und hatten auch Bücher von kasachischen Autoren. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Aber die Erzählung „Белая аруана“ (heißt so viel wie: weiße Dromedarstute) von Satimschan Sanbajew hatte mich so beeindruckt, dass sie noch nach Jahrzehnten in meinen Gedanken immer wieder auftaucht. Nun habe ich das Internet nach einem Buch, das diese Erzählung enthält, durchstöbert und es ist ziemlich abenteuerlich. In Deutschland kann man das gar nicht kaufen. In Russland ist es oft „nicht auf Lager“. In Kasachstan wird es nur innerhalb vom Land verschickt. Klar ist es doch möglich, aber was für ein Aufriss! Und ich werde dabei so einen vermessenen Drang nicht los, mich mit Guy Montag aus „Fahrenheit 451“ zu vergleichen, der das gelesene Buch in seinem Gedächtnis vor dem Vergessen bewahrt.
Ist es nicht seltsam? Man kann heute ohne Probleme im Restaurant ein Steak vom argentinischen Rind essen oder kanadischen Ahornsirup bekommen. Man kann sich ein rotes Holzhäuschen mit weißen Fensterrahmen aus Schweden herbestellen. Wir tragen Kleidung, die um die halbe Welt transportiert wurde. Aber ein Buch aus eigenen Kindertagen aus einem Land, das es nicht mehr gibt, zu finden, zu erwerben, gleicht ein bisschen einer archäologischen Ausgrabung…